Wer kennt sie nicht, die Unternehmensphilosophien und Leitgedanken, die eine bessere Welt zu verheißen scheinen. Von Respekt ist da oft die Rede, von Vertrauen, von Transparenz – im Umgang miteinander und im Umgang mit Geschäftspartnern und Kunden. Fraglos wichtige Werte – aber werden sie auch gelebt? Oder schweben sie lediglich als Worthülsen in den oberen Etagen und die Mitarbeiter schütteln nur noch genervt den Kopf: ‚Das hat mit unserem Alltag nichts zu tun‘? Von Emergenz sprechen wir, wenn aus der Mitarbeiterschaft heraus, aus eigenem Impuls Werte definiert und auch praktiziert werden.
In einem Strukturvertriebsteam (ja!) ist der Versuch geglückt und bis zum heutigen Tage erfolgreich. Strukturvertrieb wird gemeinhin assoziiert mit Aufschwatzen bis hin zu Drücker-Kolonnen. In diesem Team der Versicherungsbranche leben die Player heute die Werte, die sie zuvor als wirklichkeitsfremd empfunden haben. Sie begegnen ihren Kunden mit Aufmerksamkeit und Respekt für individuelle Erfordernisse. Im Team selbst hat die Handlungslogik Gemeinschaft einen wichtigen Stellenwert gewonnen. Der Antrieb zu ihrem Handeln ist aus der eigenen Mitte heraus entstanden. Wie das gelungen ist?
Hergeleitet vom lateinischen emergere für „das Auftauchen“, „das Herauskommen“ oder „das Emporsteigen“ – bedeutet Emergenz die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Auf eine Organisation bezogen bedeutet das: Wenn Mitarbeiter gemeinsam ein neues Arbeitsverständnis definieren und neue Abläufe etablieren, dann ist das Ergebnis mehr als die Summe der Einzelbeiträge, es ist die Potenz aller Meinungen, Einstellungen und Einzelverhalten in dieser Organisationseinheit.
Vertriebsleiter Jürgen Lenninger, heute Mitte 40, kam ursprünglich aus der Baubranche: „Da herrschte schon ein harter Umgangston“ – verglichen mit der Vertriebswelt aber fast noch angenehm. Hier brachen schon mal Verkäufer zusammen, weil sie dem Druck nicht mehr standhielten, Abschlüsse zu bringen. Innerhalb von zwei Jahren schrumpfte dieses Team von 100 auf 3 Vertriebsmitarbeiter.
» Das Empfinden, an etwas wirklich Großem teilzuhaben «
2009 zettelte Lenniger eine kleine Palastrevolution an: der Geschäftsstellenleiter musste gehen, eine „Schar“ von acht Neuerern gab sich ihre eigenen Statuten und ihren eigenen Namen. Und definierte, was fortan gültig sein sollte: Wertschätzung, kein Druck und das Tempo selbst bestimmen. Heute hat die SOKO Rente schon fast wieder die alte Größe erreicht.
Im Rahmen einer fundierten Ausbildung und eines Trainings, das an Kundenberatung, nicht Überredung orientiert war, wuchs aus bloßen Worthülsen innere Überzeugung: Neue Mitarbeiter werden solange vom Seniorpartner begleitet, bis sie sich wirklich sicher fühlen, sie dürfen Schwächen zugeben – und sie ziehen mit der Botschaft im Hinterkopf los: „Es geht darum, dass der Kunde sich verstanden fühlt. Es geht nicht darum, gleich mit einem Vertrag nachhause zu kommen“. Hier sind auch Fragen relevant, ob der Kunde eher ein risikoreicher oder eher ein vorsichtiger Typ ist. „Wir wollen, dass unsere Kunden nachts noch ruhig schlafen können“, sagt Vertriebschef Lenninger. Kunden, die ein derart individuelles Anlageprofil erhalten, empfinden dies als wertschätzend. 80 Prozent der Kunden schließen den Vertrag bei dem Zweittermin ab.
Natürlich hatte der Versicherungskonzern, in dem die SOKO Rente beheimatet ist, Werte wie‚ Kunden wertschätzen, Transparenz herstellen, nicht überreden“ an die Mitarbeiter ausgegeben. „Es ist aber etwas ganz anderes“, sagt Lenniger, „ wenn meine Leute diese Werte als ihre eigenen empfinden, wenn sie das Empfinden haben, etwas Neues auf die Beine zu stellen, an etwas wirklich Großen teilzuhaben“: Nicht mehr und nicht weniger als dem Strukturvertrieb ein neues Gesicht zu geben.
Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen