Mit dem Phänomen zunehmender Komplexität und Dynamik haben wir uns im Rahmen unseres Blogs schon vielfach auseinander gesetzt. Ein hilfreicher Ansatz, mit den daraus resultierenden, stärker werdenden Belastungen und Nebenwirkungen in einer Führungsrolle umzugehen, ist das Modell Leadership Agility von Bill Joiner.

 

 

Die drei Führungstypen

Für diejenigen, die die entsprechenden Beiträge nicht mehr ‚auf dem Schirm haben‘, hier noch einmal die Kurzfassung:
Bill Joiner hat untersucht, weshalb manche Organisationen in Zeiten zunehmender Komplexität (=Vernetzung) und wachsender Dynamik („Dynaxity“) erfolgreicher geführt werden als andere. Im Rahmen seiner 20-jährigen Forschungsarbeit hat er Muster für drei Führungstypen entdeckt und zwar…

…den ‚Expert‘, der sich selbst und die Welt über Fachlichkeit erklärt, nach der Devise: „Ich sehe richtig, alle anderen falsch“

…den ‚Achiever‘, der mit Blick auf die Erreichung seiner Ziele sicherstellen will, dass sich niemand übergangen fühlt und er nichts Wesentliches übersieht

…den ‚Catalyst‘, der – ausgestattet mit hoher Fähigkeit zur Selbstreflexion, Multiperspektivität und Empathie – in dem besonders ausgeprägtem Bewusstsein führt, dass er ein soziales System steuert und keine Maschine. Nach den Ergebnissen der Forschung von Bill Joiner machen Letztere weltweit derzeit ca. 10% der Top-Entscheider aus.

Hinweis: Es geht selbstverständlich nicht darum, nun möglichst aus allen Managern Catalysts zu machen. Es gibt jede Menge Aufgaben, bei denen ein Expert genau richtig besetzt ist oder ein Achiever exakt das richtige Augenmaß für die erforderliche Zielorientierung und Stakeholderintegration besitzt. Überall da jedoch, wo die Begleiterscheinungen zunehmender Dynamik und Komplexität (Umgang mit Ungewissheit, zeitweiliger Lösungslosigkeit, fehlender Vorhersagbarkeit,..) sogar körperlich spürbar werden (=steigende Burnout-Raten), stellt sich die Frage: Was will ich sein, ‚Opfer der Umstände‘ oder ‚Gestalter meines (Lebens-)Erfolgs‘?  Oder mit anderen Worten, wie kann ich agiler in meinem Denken und Tun werden? Und wo sollte ich am besten damit anfangen?

 

Sich selbst in Frage stellen und die Perspektive anderer einnehmen

Nun, betrachten wir eine Fähigkeit, die Catalysts offenbar besonders ausgeprägt besitzen, die Multiperspektivität. Die Fähigkeit also, Dinge aus verschiedenen Richtungen zu betrachten und die Ergebnisse der dabei gesammelten Erkenntnisse bewusst in das eigene Entscheiden und Handeln einfließen zu lassen. Gerade beim Thema Selbstreflexion, gekoppelt mit anschließender Fähigkeit sich zu verändern, beobachte ich in meiner Projektpraxis auf den Führungsebenen aller Branchen die größten Defizite. Nehmen wir einmal an, wir möchten unsere Fähigkeit, bewusst mit unseren inneren Blickwinkeln umzugehen, entwickeln und uns damit auf den Weg zu mehr Agilität machen.

 

Entscheidungen treffen mit dem inneren Team

Dann beginnen wir damit bei und in uns selbst. Machen wir uns bewusst, wie wir bisher Entscheidungen getroffen haben. Erkennen wir, dass sich dabei stets verschiedene ‚Ichs‘ in einen Widerstreit von Meinungen und Gefühlen begeben. Da mag es den Kontrolleur, den Skeptiker, den Ängstlichen, den Entdecker, den Selbstverwirklicher, den Freiheitliebenden und möglicherweise noch viele mehr geben. Manche davon positionieren sich laut, machtvoll und kräftig. Wieder andere flüstern nur, trauen sich kaum zu Wort oder heben nur unbemerkt die Hand zur Wortmeldung.

Meist sind für die am Ende getroffene Entscheidung immer die ‚üblichen Verdächtigen‘ verantwortlich, also der Vernünftige oder der Kritiker (hier meist für die am Ende nicht getroffenen Entscheidungen oder auch faulen Kompromisse) oder der Kontrolleur.

In unserem Kulturkreis ist besonders beliebt, ‚vernünftige‘ Entscheidungen zu treffen. Kein Wunder also, dass der Verstand (im Zusammenspiel sind das der Vernünftige, der Kritiker, der Kontrolleur, der Skeptiker), oft die Oberhand in unserem Leben behält.

Ein Beispiel gefällig? Nehmen wir einmal an, wir sitzen auf einer Hotelterrasse mit Blick auf das Meer. Im ersten Impuls fühlen wir uns mit dieser Wahrnehmung einfach nur gut, denn wir bewerten nicht. Doch oft nach kurzer Zeit meldet sich der einfache Teil unseres Verstandes (er hat ja den genetischen Auftrag ständig nach Lösungen zu suchen oder – wenn es nichts zu lösen gibt – zu bewerten) zu Wort: ‚Die Farbe ist aber nicht so schön, wie im letzten Jahr!‘ oder ‚Was schwimmt denn da an der Oberfläche?‘ oder ‚Wie warm das wohl gerade ist?‘ und schon ist das schöne Gefühl wie weg geblasen – quasi weg rationalisiert.

 

Rüdiger Schache fasst das in ‚Die 7 Schleier vor der Wahrheit‘ (Buchtipp!) passend so zusammen:
‚Unser Verstand macht aus dem wunderschönen Meer einen schlichten Eimer Wasser‘. Aber natürlich kann es auch anders herum gehen und der innere Hedonist setzt sich gegen Vernunft und Kritiker durch, was am Ende nicht selten mit einem Kater endet.

Wie man mit diesem Problem umgehen kann und selbst wieder den Chefsessel übernehmen kann, erläutere ich in meinem nächsten Beitrag.

 

Unternehmensagilität: Wie werden wir agil?

Führungsagilität: Die Kraft des Optimismus

Unternehmensagilität – ein neuer Modebegriff?

 

Category: Führung, Standpunkte