Brian Robertson erzählt gern diese kleine Geschichte: Eine Radfahrer-Clique hatte ihren Tagesausflug sorgfältig geplant, jede Abbiegung nach Straßenkarte genau vorberechnet und war sich nun sicher, ihr Ziel auch mit Augenbinden zu erreichen. Kein Wunder, dass dieses Experiment schon bei der ersten, in der Straßenkarte nicht eingezeichneten, Baustelle mit Stürzen endete.
Robertson verdeutlicht mit dieser Allegorie die Gefahr von Organisationsmanagement, das vermeintlich unumstößlich ist: So haben wir das geplant, so muss das jetzt laufen. Holacracy eröffnet neue Perspektiven. In dieser dreiteiligen Serie setzt Teil 2 den Fokus auf Wirtschaft und Philosophie, Teil 3 wird sich mit der Verlinkungskultur durch Holakratie befassen.
Die Augenbinde, die sich die Radfahrer hier übergestreift hatten, ähnelt nicht selten dem Beharren auf einmal getroffenen Entscheidungen in Unternehmen, etwa bei Change-Prozessen, wenn ungeachtet von Widerstand Veränderungen durchgedrückt werden. Auch wenn sie zerstörerische Wirkung haben. Genau an diesem neuralgischen Punkt setzt das Holacracy-Modell an; hier ist ein wichtiger Überprüfungspunkt einer intendierten Veränderung der nachweisbare Schaden, den diese Veränderung nach sich ziehen wird, auch in der kleinsten Einheit eines Unternehmens. Nur wenn zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung der Nachweis eines Schadens nicht möglich ist, wird das Projekt in Angriff genommen und stetig auf seine Wirkung überprüft.
Wie Philosophie die Wirtschaft erobert
Dem US-Amerikaner Brian Robertson (s. Interview “Die Seele der Organisiation befreien”), Firmenchef eines Technologie-Unternehmens, ist es gelungen, aus dem philosophischen Ansatz der Holarchie nach Arthur Köstler ein mittlerweile in vielen US-amerikanischen Unternehmen erfolgreich praktiziertes Verfahren zum Organisationsmanagement zu entwickeln. Zunehmend setzt sich der Gedanke auch in der europäischen Wirtschaftswelt durch.
Bei zunehmender Komplexität finden sich in der Natur Prozesse und Muster teilstückartiger Selbstorganisation. Atome sind in sich funktionierende „Ganzheiten“, die in der größeren „Ganzheit“ der Zelle aufgehen, Zellen wiederum führen ein Eigenleben innerhalb von Molekülen. Jede Existenzform ist in sich ganz, zugleich aber ohne die umfassendere ‚Ganzheit‘ nicht-existent. Der Philosoph Arthur Koestler bezeichnete diese Teil-Ganzheiten als Holons und ihre hierarchische Ineinanderschachtelung nannte er Holarchie. In Kombination mit dem Wortteil „cracy“ für Herrschaft entstand das Synonym Holacracy, Herrschaft der Holarchie.
Holarchie spiegelt sich in allen Ebenen der Wirtschaft. Selbst große Konzerne können im Rahmen der internationalen Vernetzung von Waren-, Dienstleistungs- und Finanzströmen Marktveränderungen nicht mehr in absoluter Autonomie initiieren. Diese nochmals übergeordnete Verflechtung von Interessen und Geschehnissen zu begreifen, ist in der Verständnisebene der Transformation und Spiritualität angesiedelt.
Übertragen auf den nächstkleineren Kreis von Organisationen spiegelt sich der Holon-Gedanke in den Hierarchie-Ebenen, die jeweils ein Eigenleben führen. Etwa das mittlere Management, das es jedoch ohne die umfassende ‚Ganzheit‘ der Organisation in dieser Form nicht gäbe.
Im Holacracy-Modell geht man von der Annahme aus, dass jede Organisation ein Ziel verfolgt. Je größer diese ‚Ganzheit‘ ist, umso weitreichender das Ziel:
- Der weltweit agierende Konzern etwa steuert das Ziel ‚global leadership‘ an.
- Die Deutschland-Zentrale will Marktführer hierzulande sein.
- In der Deutschland-Zentrale selbst gibt es klassische vertikale Organisationshierarchien und horizontale Professionalitäten, deren Repräsentanten jeweils die für ihre Position und ihren Wirkungsgrad zugeschnittenen Ziele verfolgen.
» Nicht für jede Entscheidung beim Chef anklopfen «
Mit dem von Brian Robertson entwickelten modus operandi entstehen Entscheidungs- und Entwicklungsebenen der Zielerreichung, die in klassisch hierarchisch strukturierten Organisationen eine Revolution bedeuten. Denn sie erfordern ein komplettes Umdenken in Sachen Führungsverständnis und Organisationsmanagement. Holacracy geht davon aus, dass Teil-Ganzheiten sich selbst organisieren können – und nicht für jede Entscheidung bei der nächsthöheren Ebene anklopfen müssen. Diese „Holons“ orientieren sich nur noch im sehr geringen Maße an der hierarchischen Position, etwa an Vorstand oder Geschäftsführung. Die Eckpfeiler ihres Denkens und Handelns sind prozessuale Erfordernisse wie strategische Positionierung, Projektmanagement und operative to do’s.

Die strategische Positionierung wird im Regelfall auch weiterhin in der höchsten Führungsebene angesiedelt sein, hier fallen Entscheidungen in Strategie-Meetings. In der mittleren Verwaltungs- und Abteilungsleiterebene sind die Governance-Meetings zur Projektentwicklung angesiedelt und auf der Teamebene findet im Rahmen von operativen Meetings die Umsetzung von Projekten statt. Zwischen allen Einheiten herrscht eine rege Verlinkungskultur.
Entscheidend im Denkmodus von Holacracy ist die Abkehr vom autokratischen Führungsverständnis, alle Prozesse selbst anzuleiten, zu kontrollieren – und damit die Deutungshoheit zu zentralisieren. Holacracy delegiert auch die Deutungshoheit, etwa wann ein Projekt nachweisbar Schaden anrichtet, an die unmittelbar betroffenen Einheiten. Für nicht wenige Führungskräfte ein veritabler Ego-Schock. Sie müssen umdenken.
Teil 1 der Serie: Holacracy – Ausweg aus der Sandwichposition
Teil 3 der Serie: Holacracy – Verlinkungskultur im Entscheidungsprozess
Weitere Informationen zu Holacray:
Wittrock D. (2011) “Holacracy: Jenseits von Autokratie und der Tyrannei des Konsens” in Hollmann J. Daniels K. “Anders wirtschaften – Was Erfolgreiche besser” Gabler Wiesbaden, anders-wirtschaften.eu sowie: integral-con-text.de
Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen