Entscheidungshoheit zu haben ist gut. Einerseits. Entscheidungshoheit kann aber auch bedeuten, dass jede Kleinigkeit auf den Schultern des Vorgesetzten abgeladen wird. Muss der sich dann wiederum gegenüber der nächsthöheren Ebene verantworten, ist die Sandwichposition perfekt. Die eine Seite drückt von unten, die andere von oben. Ein Klassiker in hierarchischen Organisationsstrukturen. Holacracy eröffnet neue Perspektiven. In dieser dreiteiligen Serie beschäftigt sich Teil 1 mit der Sandwichposition, Teil 2 wird den Fokus auf Wirtschaft und Philosophie setzen und Teil 3 auf die Verlinkungskultur durch Holakratie.

Die Begriffe Autokratie und Demokratie sind uns allen geläufig. Holakratie (Holacracy) ist  eine Wortzusammensetzung aus Holarchie und Demokratie, zurückzuführen auf die Holon-Philosophie von Arthur Köstler: Holons sind selbstständig agierende Einheiten; jede Einheit lebt wiederum in einer größeren Einheit, ist für diese also lebensnotwendig und umgekehrt –

  • so wie eine Zelle aus Atomen besteht und umgekehrt die Atome in der Zelle existieren,
  • so wie ein Unternehmen aus verschiedenen hierarchischen Ebenen und Zuständigkeiten besteht, es ohne das Konstrukt Unternehmen aber kein mittleres Management gäbe.
Vom Philosophen Arthur Köstler stammt das Gedankenmodell der Holarchie: Holons, also Einheiten, organisieren sich jeweils in ihrer Einheit bis zu einem gewissen Maß selbst. Die nächstgrößere Einheit lebt von diesen kleineren Einheiten, umgekehrt existieren die kleineren Einheiten in der großen. Übertragen auf Unternehmen, heißt das, dass jede Hierarchiebene von der anderen partizipiert und in gewissem Umfang Entscheidungen absolut autonom treffen kann. Zeichnerisch kann dies in sich überschneidenden Kreisen dargestellt werden, die sich wie eine Folie über die klassisch-vertikale Organisationsstruktur spannen.
Im Holacracy-Modell werden über traditionelle Hierarchiebenen neue Kreise der Entscheidungsfindung wie eine Folie gespannt.

Holacracy bedeutet für Unternehmen eine Revolution in prozessualen Abläufen. Die Strukturen in der  Organisation bleiben identisch. Es wird auch weiterhin Hierarchieebenen und Fachbereiche geben. Über die bestehenden Strukturen werden nun wie eine Klarsichtfolie neue Prozesse gespannt.  Alle Ebenen im Unternehmen werden in Kreise aufgeteilt, in denen Entscheidungen unterschiedlicher Art autonom gefällt werden können. Diese Entscheidungen richten sich auf die drei großen prozessualen Erfordernisse der strategischen Positionierung, der Projektentwicklung und der operativen Umsetzung und kommen durch spezifische Meeting-Typen zustande.

 

Die Strategie-Meetings

Sie sind im Regelfall auf der Ebene von Geschäftsführung und Vorstand angesiedelt. Hier geht es um die langfristigen Entscheidungen, wohin sich das Unternehmen entwickeln soll.

 

Die Governance-Meetings

Sie richten sich auf Projekte im Rahmen der strategischen Ausrichtung. Hier wird entschieden: Machen wir dieses Projekt? Wenn ja, wer übernimmt welche Funktionen? Dieser Meeting-Typ entlastet vor allem das „Sandwich“-Management, befreit die “Lastesel der Konzernwelt“, wie es manager magazin formuliert, aus der Sandwichposition.

Vertriebsmitarbeiterin Cindy M. ist für ihren Ideenreichtum bekannt. Von zehn Ideen, die Cindy hat, könnten manche wirklich durchschlagend sein. Nur hat Cindys Vorgesetzter auch noch andere Dinge zu tun und reagierte bislang zunehmend genervt – und Cindy selbst begann zu resignieren, weil sie ständig abgewimmelt wurde. Nun aber ist seit wenigen Wochen alles anders: Wieder einmal steht  Cindy bei ihrem Chef auf der Matte und beginnt zu sprudeln. Heute aber sagt Robert S. nicht „ja, ja, ich kümmere mich drum“ – und beide wussten im selben Moment, dass das eine Floskel war. Heute hört sich S. sogar ein paar Minuten lang interessiert den Vorschlag seiner Mitarbeiterin an. Und rät ihr dann, diesen im Governance-Meeting vorzutragen. Dort kann niemand einen Vorschlag einfach ‚abbügeln‘, etwa weil er die Kollegin nervig findet. Das weiß auch Cindy,  Und verlässt das Büro ihres Chefs voller Tatendrang: „Danke, dass Sie mir trotzdem zugehört haben“.

Die operativen Meetings

Hier wird das umgesetzt, was u. a. in Governance-Meetings beschlossen wurde und was jetzt aktuell anliegt. Hier geht es darum, dass Projekte möglichst effektiv und effizient gestaltet werden. Dieser Meeting-Typ findet vorrangig in den Team-Kreisen statt.

 

Verlauf eines Governance-Meetings

Im Governance-Meeting wird jede Idee in einem ritualisierten Diskussionsprozess gewürdigt. Heute steht Cindys Vorschlag auf der Tagesordnung.

Phase Eins: Check In

Moderator Axel K. eröffnet das Meeting mit einer Check-In-Runde. Jeder Teilnehmende erklärt kurz seinen organisatorischen Hintergrund –  und schildert genauso kurz sein persönliches Befinden in diesem Moment. Das beruht auf einer absolut pragmatischen Überlegung. Hatte beispielsweise ein Teilnehmer eine schlaflose Nacht, wissen die anderen, dass seine schlechte Laune nichts mit dem Thema des Tages zu tun hat.

Phase Zwei: Diskussionsschleifen

Jetzt präsentiert Cindy ihren Vorschlag und der Moderator lässt jeden in der Runde Verständnisfragen stellen. Wertende Bemerkungen („Blödsinn“) werden sofort zurückgewiesen. In der zweiten Diskussionsschleife sind inhaltliche Anregungen erwünscht, in der dritten kann der Ideengeber Aspekte klarzustellen, in der vierten werden Einwände der Teilnehmenden auf einem Flipchart skizziert.

Phase Drei: Der Schadensfokus

Jeder Einwand muss konkret darauf Bezug nehmen, warum dieser Vorschlag nicht umsetzbar sein könnte. Es geht hier nicht um persönliche Wertungen, der Fokus liegt auf dem konkret zu erwartenden Schaden, den jeder Teilnehmende für seinen Verantwortungsbereich begründen muss. Ist ein Einwand sachlich unanfechtbar, würde Cindys Vorschlag an dieser Stelle abgelehnt. Sie müsste dann zu einem anderen Meeting einen neuen, verbesserten Vorschlag mitbringen. Kann keiner der Teilnehmenden hieb- und stichfest nachweisen, worin der Schaden für seinen Arbeitsbereich bestehen könnte, wird Cindys Vorschlag in Gestalt einer Testphase umgesetzt.

Teil 2 der Serie: Holacracy – Revolution im Organisationsmanagement

Teil 3 der Serie: Holacracy – Verlinkungskultur im Entscheidungsprozess

Weitere Informationen zu Holacray:

Wittrock D. (2011) “Holacracy: Jenseits von Autokratie und der Tyrannei des Konsens” in Hollmann J. Daniels K. “Anders wirtschaften – Was Erfolgreiche besser” Gabler Wiesbaden, anders-wirtschaften.eu sowie: integral-con-text.de

Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen