Wahrhaftig, dieses Szenario scheint einem Science-Fiction-Film entlehnt: Mitarbeiter eines Unternehmens können jederzeit Veränderungsvorschläge einbringen und brauchen keinen Gesichtsverlust zu fürchten, wenn sich die Idee als nicht praktikabel herausstellt. Neue Ideen werden unabhängig von der Position gewürdigt, selbst der auf unterster hierarchischer Stufe stehende Arbeiter braucht nicht erst zu seinem Vorgesetzten zu laufen. Und der muss die Idee seines Mitarbeiters nicht mehr gegenüber seinem Chef verteidigen. Im dritten und abschließenden Teil unser dreiteiligen Serie zu Holacracy setzen wir den Fokus auf die Verlinkungskultur, die durch die Schnittmenge vieler Entscheidungseinheiten im Unternehmen etabliert wird.

In klassisch-hierarchischen Führungsstrukturen wird Führung oft mit Leitfiguren assoziiert, mit einer charismatischen Führungspersönlichkeit. Ohne die das „Getriebe“ des Unternehmens – vermeintlich – „absäuft“. Das muss nicht sein. Holacracy kreiert ein neues Betriebssystem fürs Unternehmen. Gute Führung wird natürlich auch im Holacracy-Modell benötigt. Hier verteilt sich Führung aber auf viele verschiedene Ebenen. Und etabliert eine Verlinkungskultur im Sinne des Wortes.

Über die klassischen Hierarchie-Ebenen wird wie eine Folie ein neues prozessuales System gespannt. Entscheidungsprozesse orientieren sich nicht mehr an der hierarchischen Positionierung, sondern an drei großen prozessualen Erfordernissen:

  1. der strategischen Positionierung,
  2. dem Projektmanagement
  3. und den operativen to-do’s.

Jeder dieser Verantwortungsbereiche spiegelt sich in spezifischen Meeting-Typen, die nach situativem Erfordernis anberaumt werden. Zwischen diesen Entscheidungseinheiten existiert eine rege Verlinkungskultur. Im gesamten System herrscht Informationstransparenz top down und bottom up. Unternehmen, die in diesem Verständnis arbeiten, sind auch reif für die Protagonisten der Social-Media-Kultur.

Vom Philosophen Arthur Köstler stammt das Gedankenmodell der Holarchie: Holons, also Einheiten, organisieren sich jeweils in ihrer Einheit bis zu einem gewissen Maß selbst. Die nächstgrößere Einheit lebt von diesen kleineren Einheiten, umgekehrt existieren die kleineren Einheiten in der großen. Übertragen auf Unternehmen, heißt das, dass jede Hierarchiebene von der anderen partizipiert und in gewissem Umfang Entscheidungen absolut autonom treffen kann. Zeichnerisch kann dies in sich überschneidenden Kreisen dargestellt werden, die sich wie eine Folie über die klassisch-vertikale Organisationsstruktur spannen.
Im Holacracy-Modell werden über traditionelle Hierarchiebenen neue Kreise der Entscheidungsfindung wie eine Folie gespannt.

Lead Links: Die Wegweiser

Sie sind die Repräsentanten des jeweils umfassenderen Kreises. So ist die strategische Positionierung des Unternehmens (Strategie-Ebene) ein größeres Holon als die Unternehmensverwaltung; anders ausgedrückt: In der großen Einheit “Strategie” ist die kleinere Einheit “Verwaltung” enthalten. Im Rahmen dieser nächstkleineren Einheit im Unternehmen, der Governance (Verwaltungs)-Ebene, wird die Umsetzung von Projekten beschlossen oder abgelehnt. In der Governance-Einheit ist wiederum die operative Einheit resp. Teamebene enthalten, auf der Projekte umgesetzt werden.

Repräsentanten des jeweils größeren Kreises resp. des jeweils umfassenderen Holons geben dem darunterliegenden Kreis Arbeitsinhalte vor und wohnen diesen Treffen dann auch bei. Die Organisation des Arbeitsinhaltes aber übernimmt der darunterliegende Kreis in Eigenregie.

  • Lead Links der Strategie-Ebene etwa übermitteln Themen an die Governance-Ebene.
  • Lead Links der Governance-Ebene räumen einem Arbeitskreis der operativen Ebene Hindernisse bei der Erfüllung seiner Aufgabe aus dem Weg und stellen die Besetzung von Positionen mit den passenden Funktionsträgern sicher.

In diesem Verständnis ebnen Führungspersönlichkeiten Wege, sie wirken unterstützend. Ihr Selbstverständnis wandelt sich vom Anordnenden zum Hegenden und Pflegenden, vom General zum Gärtner.

 

Representative Links: Die Stellvertreter

Sie übermitteln die Arbeitsergebnisse aus ihrem Kreis an die höher gelegenen Meetings. Einzig an den Strategie-Meetings nehmen keine Stellvertreter der darunter liegenden Meeting-Kreise teil. Von dieser Ebene werden nur „Wegweiser“ entsandt.

Man kann hier von einer integralen Lösungsfindung sprechen. Es werden diejenigen in die Lösungsfindungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen, die Dinge dann auch umsetzen sollen und werden. Der Diskussionsprozess selbst trennt grundsätzlich zwischen demjenigen, der einen Vorschlag einbringt und dem Vorschlag selbst. Mit diesem Trick wird Ego-Shooting unterbunden.

 

Ein “Betriebssystem” für Pragmatiker

Auch die drei anderen ‚Klassiker‘ von Entscheidungsfindungen haben hier keinen Platz mehr:

  • weder das Autokratie-Prinzip (‚gemacht wird, was der Chef sagt‘),
  • noch das Demokratie-Prinzip (‚die Mehrheit hat Recht‘)
  • noch das Konsens-Prinzip (‚wir entscheiden alle alles gemeinsam‘).

In den Diskussionsprozessen bei Holacracy geht es nicht um universelle Lösungen, auch nicht darum, Vorschläge argumentativ zu entkräften. Es geht immer um die jeweils zu diesem Zeitpunkt und zu diesem Anlass passende Lösung, die etwas in Bewegung bringt und der Organisation definitiv keinen Schaden zufügt. Das müsste doch jedem Pragmatiker zusagen? Hier eine kleine Vorteilsliste:

  1. Die Übernahme von Verantwortung wird gestärkt und zu persönlicher Initiative ermutigt. Das fördert die Motivation.
  2. Die Umsetzungsgeschwindigkeit von Veränderungen erhöht sich und der Angstlevel in der Organisation wird reduziert.
  3. Führungskräfte werden aus der Sandwichposition befreit.
  4. Veränderung entsteht kontinuierlich aus der gesamten Organisation heraus.
  5. Eine hohe Flexibilität durchzieht das gesamte Geschehen und ermöglicht eine rasche Anpassung an sich verändernde Umstände.
  6. Das Verfolgen von Partikularinteressen reduziert sich markant.
  7. Jeder einzelne Mitarbeiter ist Frühwarnsystem und Sensor für Handlungserfordernisse. Probleme und Themen werden dadurch schnell sichtbar, besprechbar und lösbar.

 

Teil 1 der Serie: Holacracy – Ausweg aus der Sandwichposition

Teil 2 der Serie: Holacracy – Revolution im Organisationsmanagement

Weitere Informationen zu Holacray:

Wittrock D. (2011) “Holacracy: Jenseits von Autokratie und der Tyrannei des Konsens” in Hollmann J. Daniels K. “Anders wirtschaften – Was Erfolgreiche besser” Gabler Wiesbaden, anders-wirtschaften.eu sowie: integral-con-text.de

Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen