Mein Kollege Christian Brauner hat in seinem jüngsten Beitrag vor vollkommen wirkungslosen“ Methoden im Change-Prozess gewarnt. Etwa wenn eine neue Software und eine Prozessoptimierung das Reklamationsmanagement und damit die Kundenzufriedenheit mit dem Unternehmen deutlich verbessern sollen – der Faktor Mensch in dieser Veränderung  aber nicht berücksichtigt wird. Genau deswegen kann es noch schlimmer kommen: Der Change-Prozess, der nur auf „Hard Facts“ baut, kann zu massiven Widerständen bis hin zu Massenkündigungen im Unternehmen führen.

 
Nicht selten wird der Change-Prozess vom Scope her zu schmalbandig aufgesetzt, es fehlt ein klar definiertes Ziel, die Ausgangsbedingungen sind nicht hinreichend untersucht worden. Der Change geht am Kernthema vorbei oder verstärkt sogar die Ursprungsproblematik, die übersehen oder zu oberflächlich behandelt wurde. In einem Fall aus unserer Beratungspraxis ist es zur Katastrophe gekommen:

 

Blick zurück: Die neue CRM-Software für mehr Transparenz

In diesem Unternehmen hatten sich Kundenbeschwerden gehäuft, dass aus externer Sicht die Zusammenarbeit schlecht koordiniert sei. Eine Abteilung wisse offenkundig nicht, was die andere tue; es würden oft vollkommen widersprüchliche Aussagen gegenüber Kunden getroffen. Um Abhilfe zu schaffen, beschloss nun der Gesamtvorstand die Einführung eines Customer-Relationship-Management (CRM)-Systems. Die hierfür verwendete Software speichert umfangreiche Daten zu den Kunden, ihren Bedürfnissen und viele weitere Hintergrundinfos. Mit diesem neuen System, so argumentierte der Vorstand, seien die Voraussetzungen für eine bessere Kundenorientierung geschaffen. Die am Leistungsprozess beteiligten Einheiten könnten nun auf viel mehr Informationen zugreifen und besser zusammenarbeiten. So weit so gut.

Im nächsten Schritt einigte man sich, dass für die operative Umsetzung der Neuerungen der Vorstand Vertrieb zuständig sein sollte. Dieser wies nun sogleich die Programmierer an, jeder Abteilung nur Teile der Daten zur Einsicht freizugeben. Warum? Dem Vorstand Vertrieb war es sehr wichtig, dass keiner seiner Mitarbeiter im Falle einer Kündigung Kundendaten ‚entführte‘. Mit der eingeschränkten Zugriffsberechtigung war seiner Meinung nach diese Gefahr gebannt.

Kurz nach der Einführung des Systems kam es zum GAU: Demotivation, Frust und innere Kündigungen vergifteten sehr rasch das Arbeitsklima. Etliche Vertriebsmitarbeiter verließen das Unternehmen und nahmen wichtige Kunden gleich mit.

 

Was war passiert? Fatales Herumdoktern an Symptomen

Im Medizindeutsch gesprochen, hat der Gesamtvorstand beim Versuch, die ‚Krankheit Kundenunzufriedenheit‘ zu kurieren, lediglich am Symptom herumgedoktert. Zwar wurden mangelnde Informationsflüsse als ‚Krankheitsherd‘ diagnostiziert, warum dieser Krankheitsherd aber entstanden war, blieb unberücksichtigt. Der Gesamtvorstand hat eine sorgfältige Anamnese versäumt, welche tieferliegenden Ursachen im Unternehmen der suboptimalen Kundenorientierung zugrundelagen. Die vorschnelle „Verordnung“ der neuen Software mitsamt neuen Informationsprozessen hatte zu einem Aufbrechen weiterer Krankheitsherde geführt.

In diesem Unternehmen waren gleich mehrere grundlegende Denk- und Handlungsfehler passiert. Und das in zwei nacheinander geschalteten Prozessen:

 

Der Gesamtvorstand und seine Missachtung der Unternehmenskultur

Handlungslogiken nach Graves in der evolutionären Entwicklung

Der Gesamtvorstand hatte mit seinem Beschluss die in diesem Unternehmen herrschende Werte- und Unternehmenskultur missachtet. Hier war eine Machtkultur vorherrschend, die sich durch den Zugriff auf Wissen ausdrückte. Im Bewusstsein aller Akteure war das Prinzip verankert: Wissen ist Macht, der Zugriff auf Informationen galt als absolutes Privileg. Wer Informationen und damit Wissen weitergab, gab damit auch Macht ab. Der angekündigte, umfassende und unbegrenzte, Zugriff auf Kundendaten stellte somit einen Kulturbruch  dar.

Dies war der erste große Denkfehler: Eine so tief verankerte Wertekultur kann nicht durch eine Software vom Tisch gefegt werden. Hier wäre zunächst eine Kulturdiagnostik im gesamten Unternehmen sinnvoll gewesen.

 

Der Vorstand Vertrieb und sein offenes Misstrauen

Nun kam verschärfend der zweite Denkfehler hinzu, der sich sowohl für das Unternehmen fatal auswirkte als auch mangelnde Selbsterkenntnis bloßlegte.

  1. Indem der mit der operativen Umsetzung betraute Vorstand Vertrieb die Programmierer anwies, Daten nur eingeschränkt freizugeben, führte er den Gedanken einer größeren Informationstransparenz ad absurdum.
  2. Noch schlimmer: Der Vertriebsvorstand zementierte die „Wissen ist Macht“-Kultur durch die eingeschränkten Zugriffsrechte auf das neue System. Nun mag man denken, dass genau diese Kultur für die Mitarbeiter bislang selbstverständlich war und es daher für die Widerstände und Kündigungen keinen Grund gab. Hier ist es wichtig, zu differenzieren. Bisher pflegte jeder seine „Erbhöfe“ im stillschweigenden Einverständnis aller. Es war eben eine Kultur des “Information Hiding”. Nun aber sollte eine neue Kultur der Transparenz Einzug halten – und jetzt trat das Misstrauen des Vertriebsvorstands gegenüber der Loyalität seiner Mitarbeiter offen zutage.
  3. Am schlimmsten: Der Vorstand Vertrieb  hatte versäumt, seine eigene Einstellung einer kritischen Würdigung zu unterziehen und daran zu arbeiten.

Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen