Mal wieder sitze ich in einem dieser Meetings: es gibt einen Vielredner, der das Geschehen dominiert, viele Teilnehmer verstummen, obwohl es eigentlich keinen Anlass dafür gibt und jemand greift aggressiv aus einem nichtigen Grund die Führungskraft an.

Solche Verhaltensweisen machen in einem Meeting eigentlich keinen Sinn, wenn man auf die Aufgabe schaut, die die Gruppe zu erledigen hat – und doch gehören sie zum Unternehmensalltag. Warum eigentlich?

Während sich die Gruppe in einem Meeting um eine Aufgabe bemüht, laufen parallel etliche Gefühls- und Beziehungsprozesse ab. Was da genau passiert, lässt sich gut anhand des Bilds eines Eisbergs darstellen (vgl. König / Schattenhofer 2014; Geramanis 2007).

 

Das Eisbergmodell

Bei einem Eisberg ist nur ein Siebtel der Masse oberhalb der Wasseroberfläche sichtbar,  wohingegen sechs Siebtel darunter verborgen sind. Die große unsichtbare Masse liegt also unter der Wasseroberfläche. Sie ist vorhanden, schwer von oben in ihrer Gestalt einzuschätzen, aber sie bestimmt entscheidend das Verhalten der sichtbaren Spitze des Eisbergs.

Übertragen wir das Eisbergbild auf ein Meeting, so zeigt sich folgendes Bild: die offiziellen Themen der Sachebene „oberhalb der Wasseroberfläche“ sind für alle Beteiligten sichtbar und besprechbar. Unter der Wasseroberfläche liegen jedoch noch andere Themen der Gruppe, die sich anfänglich nur erahnen lassen. So spielt sich jedes Gruppengeschehen in einem Meeting auf drei Ebenen ab:

 

ebenen_eisberg

 

  1. Die Sachebene im Meeting – Oberhalb der Wasseroberfläche

Auf der Sachebene steht die eigentliche Aufgabe im Zentrum der Kommunikation der Gruppe in einem Meeting. Über diese Aufgabe kommen die Beteiligten miteinander ins Gespräch. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Beziehungen unter den Beteiligten glücklich oder unglücklich sind, als herzlich oder kalt empfunden werden. Es geht nur darum, ob das, was die Gruppe tut, zur Erfüllung der Aufgabe führt.

  1. Die Beziehungsebene im Meeting – Direkt unter der Wasseroberfläche

Gleichzeitig passiert einiges auf der Beziehungsebene, was alle Anwesenden beobachten und empfinden können, jedoch normalerweise nicht angesprochen wird: Wer hört hier eigentlich wem zu? Wer reagiert auf wen und wer nicht? Wer oder was findet Beachtung? Welche Vorschläge werden aufgegriffen? Warum können zwei Gruppenmitglieder den gleichen Vorschlag machen, aber er wird nur von einem der beiden aufgegriffen?

In der Regel gibt es ein Tabu, das individuelle Verhalten und wie es auf andere wirkt anzusprechen. Höchstens im Informellen in den Pausen und auf den Fluren wird sich mit „Gleichgesinnten“ darüber ausgetauscht. Meist redet man jedoch über die, die gerade nicht anwesend sind.

Als Beraterin und Beobachterin von außen staune ich oft, wie leidensfähig Gruppen sind und was sie auf dieser Ebene alles ertragen.

  1. Die individuelle Ebene im Meeting – Tief im Wasser liegend

Parallel zur Sach- und Beziehungsebene spielt in jedem Meeting auch noch die dritte Ebene, die individuelle Ebene, eine Rolle. Hier liegen die Wünsche, Bedürfnisse sowie Ängste und Befürchtungen, die in Gruppensituationen hochkommen und die jeder aus seiner Lebensgeschichte mitbringt. Vor allem in unsicheren Situationen und unter Stress greifen wir auf unsere „alt bekannten“ guten und schlechten Erfahrungen zurück und verhalten uns wie in vergleichbaren früheren Situationen. Dieses Verhalten muss nicht immer nützlich für die aktuelle Situation sein, wie hier zum Beispiel:

  • Du musst dich sofort heftig wehren, wenn dich jemand kritisiert – weil Kritik immer nur negative Abwertung und Verletzung mit sich bringt.
  • Sobald jemand anderer Meinung ist als du, musst du deine Meinung sofort aufgeben und dich einfügen, damit du nicht wegen Unstimmigkeit angegriffen wirst und aus der Gemeinschaft verbannt wirst.

 

Die richtige Balance in Meetings finden

Und noch eine Besonderheit haben Eisberge: sie schwimmen. Bekommt der obere Teil des Eisberg zu viel Gewicht – wird also zu viel Gewicht auf den Inhalt gelegt – und wird demgegenüber der Teil unter Wasser zu schmal – wird also zu wenig Rücksicht auf die Beziehungen bzw. die Befindlichkeit der Individuen gelegt – so kippt der Eisberg um und das untere ist oben. Auf ein Meeting bezogen bedeutet das, dass die Aufgabe vollkommen untergeht und die Emotionen der Gruppenmitglieder alles dominieren.

Wird dagegen die individuelle Ebene in einem Meeting überbetont und erhält zu viel Masse – wenn es also nur noch um „Einzelschicksale“ geht – wird von der inhaltlichen Spitze nur noch wenig zu sehen sein, da der Eisberg tief unter Wasser sinkt.

 

Fazit

Erscheint das Verhalten einzelner in Meetings merkwürdig, dann lohnt es sich also als Führungskraft und als Berater auf die Ebenen „unter Wasser“ zu schauen, um das Verhalten einzelner für die Gruppenmitglieder verstehbar zu machen. Schafft man es, solche Meeting-Situationen besprechbar zu machen, dann sind sie von unschätzbaren Wert für die Gruppe. Denn in der Auseinandersetzung mit abweichendem Verhalten, Meinungen und Gefühlen ist die Chance für Entwicklung in einer Gruppe besonders groß.

 

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