Ein verärgerter Ausruf, der in den Fluren von Firmen nicht selten zu überhören ist: „Und das soll Unternehmenskultur sein?“ Oft ist dieser gemünzt auf einsame Entscheidungen aus der Firmenzentrale, bei denen sich Mitarbeiter in ihren Interessen missachtet fühlen. Oder aber der Ausruf bezieht sich auf gnadenlosen Wettbewerb zwischen Abteilungen, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird. Ja! Auch das ist Unternehmenskultur!
Kultur bedeutet zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als ein grundlegendes Verständnis vom Umgehen miteinander. Ein oft gehegtes Missverständnis ist, Kultur sei das Edle, das Gute; allein diese Interpretation unterliegt bereits einer subjektiven Wertung. Genau damit sind wir übrigens bereits mittendrin:
Unternehmenskultur ist so individuell wie die Menschen, die in ihrem Miteinander eine Kultur erzeugen.
Der Evolutionspsychologe Clare Graves verstand Weltbilder und Wertesysteme als eine Form der Evolution. Seit den späten 50 er Jahren hat Graves dieses Modell bis zu seinem Tode 1986 evaluiert, präzisiert und weiterentwickelt. Die Weltbilder und Wertesysteme sind die zentralen Steuerungsinstanzen für das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen. Jedes Wertesystem hat seine Berechtigung, zugleich beschreibt Graves eine Entwicklung der Wertvorstellungen im Verlauf der Evolution: was die Menschen in ihrem Denken, Handeln und Fühlen als sinnvoll und folgerichtig empfanden, änderte sich.
Zuerst war die Macht: Wer hat hier das Sagen?
Das erbarmungslose Dasein des Einzelkämpfer unserer prähistorischen Vorfahren nach dem Motto: “Friss oder stirb”, “Kämpf‘ oder flieh‘” führte zur Bildung von Stämmen. Nicht mehr jede Aufgabe lastete auf jedem Einzelnen. Wer konnte besonders gut jagen? Wer stellte die besten Speerspitzen her? Auf einmal gab es einen Stammesführer, der die Aufgaben verteilte. Die Machtposition war geboren. Es dauerte nicht lange und auch anderen Stammesmitgliedern erschien die Machtposition sehr reizvoll. Ein Kampf um die Macht brach aus. Wir empfinden Macht oft als negativ, denken an Diktaturen, Machtmissbrauch. Jedoch ist Macht im Sinne von Entschiedenheit, Entschlossenheit und Durchsetzungsstärke auch ein Kraftmotor für eine Organisation, ein Team. Produktiv lässt sich die Handlungslogik Macht im Unternehmen beispielsweise in der Pionierphase finden. Alles orientiert sich an dem charismatischen Gründer, der neue Ideen durchsetzt und damit Märkte erobert.
Die Ordnung folgte: Jedem das Seine
Die Jahrtausende währende Machtkonzentration in den Händen ganz weniger Menschen löste eine erneute Wende aus und strebte eine Machtteilung an. Die Handlungslogik Ordnung war geboren. Das zeigt sich sehr anschaulich im Beamtentum: Ich habe verliehene Autorität. In meinen Bereich redet mir niemand hinein. Ein Phänomen, das wir gut bei der Polizei besichtigen können: Hier ist die örtliche Polizeidienststelle zuständig, hier übernimmt das LKA usw. Aus der Übertreibung von Ordnung ist die Bürokratie entstanden.

Dann die Leistung: Expertise zählt
Aus dem Empfinden der Enge und der Starrheit durch Prinzipienreiterei entstand die Handlungslogik Leistung. Individuelle Expertise steht im Vordergrund. Im Rahmen der Leistungskultur heiligt der Zweck die Mittel. Diese Handlungslogik ist typisch für stark prozessorientierte Firmen. Dabei entsteht häufig eine Konzentration auf die Kernkompetenzen wie zum Beispiel: Marktführer in der Produktion mit starkem Produktmanagement oder Steuerung über die Balanced Scorecard mit klaren KPIs (Key Performance Indicators).
Nach dem Motto: Nur gemeinsam sind wir stark ist Gemeinschaftsgefühl das Höchste
Aus dem evolutionären Erkenntnisschritt heraus, dass rein zweckorientierte Leistung nicht alles im Leben ist, entstand das Wertesystem Gemeinschaft. Dieses ist gekennzeichnet durch Toleranz, den Fokus auf die Beteiligung aller Gruppenmitglieder an Entscheidungsprozessen und durch die Orientierung an gemeinschaftlichen Erfahrungen. Diese Handlungslogik ist typisch für Think Tanks, bisweilen ist sie auch in Projektteams und multifunktionalen Teams zu beobachten. Die Schattenseite solcher Kulturen in Organisationen: Es wird viel diskutiert und fast nichts entschieden, alles wird sehr schnell sehr komplex und langwierig.
Quantensprung Integration: Was ist der Situation angemessen, was nicht?
Bei den, evolutionär gesehen, schrittweise entstandenen, ersten vier Handlungslogiken Macht, Ordnung, Leistung und Gemeinschaft spricht Graves von Wertesystemen erster Ebene (first tier thinking). Gemeint ist damit der Glaubenssatz, dass die eigene Weltsicht die einzig richtige sei und alle anderen falsch. Hat ein Mensch einen klaren Werteschwerpunkt in einem dieser vier Handlungslogiken, neigt er zur Uneinsichtigkeit und Abwehr gegenüber Menschen, die einen klaren Schwerpunkt in einer der anderen Handlungslogiken haben. Jetzt kommt der gedankliche Quantensprung zur fünften Handlungslogik, zur Integration. Diese bezeichnet Graves als Wertesystem zweiter Ebene (second tier thinking).
Die akzeptierte und wertgeschätzte Koexistenz aller Wertekulturen kennzeichnet diese Handlungslogik. Die Frage ist hier nicht richtig oder falsch, sondern: was ist der Situation angemessen, was nicht? In einem Change-Prozess etwa sind in den verschiedenen Phasen unterschiedliche Handlungslogiken im Führungshandeln des Verantwortlichen erforderlich. Die Führungskraft, der es gelingt, flexibel zu agieren, die Potenziale der Mitarbeiter sachgerecht einzubinden und je nach situativem Erfordernis im eigenen Führungshandeln zwischen Macht, Ordnung, Leistung und Gemeinschaft zu wechseln, lebt im Grave‘schen Sinne die Handlungslogik Integration.
Hinweis: Dieser Beitrag ist in Auszügen dem Buch “Change Management im Vertrieb – das Praxishandbuch für Entscheider” Haufe-Verlagsgruppe, entnommen
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